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Von den alten zu den neuen Seidenstraßen

Von den alten zu den neuen Seidenstraßen
Quelle: Fotograf Hermann Kreutzmann

Von den alten zu den neuen Seidenstraßen

06. April 2021, Prof. Dr. Hermann Kreutzmann, Berlin

Europas Neugier auf Asien und das Interesse des Reiches der Mitte an seiner westlichen Peripherie besitzen tiefgreifende Wurzeln. An beiden Polen trugen Forschungsreisende und Sammler des akkumulierten Wissens als Wegbereiter einer Erforschung des Zwischenraumes prominent in Erscheinung. Der Berliner Geograph Carl Ritter füllte den Begriff Innerasien mit allen damals vorhandenen Kenntnissen und ihm zugänglichen Wissen und popularisierte die allgemeine Neugier auf den asiatischen Zwischenraum in Europa. Seine 1841 veröffentlichte Karte trägt den Titel „Karte Innerasiens zu Carl Ritter’s Erdkunde Buch & Übergang von Ost nach Westasien“. Erstaunlich sind die flächige Verdichtung von Informationen an manchen Stellen und die Weite der wissensfreien Räume als „weiße Flecken“. Eine solche Verdichtung findet sich in der „engen Hoch-Ebene von Kabul“ und dem Hindukush mit der Platzierung von „Bamiyan“ im Westen der Stadt Kabul. Solche Karten dokumentierten zeitgenössischen Wissensstand und zukünftige Herausforderungen zugleich. Afghanistan stellte eine Scharnierstelle zwischen den großen Blöcken gebildet aus dem Chinesischen Kaiserreich, Khorassan, dem sich ausdehnenden Zarenreich und den angrenzenden Khanaten sowie dem Indischen Subkontinent dar. Letzterer befand sich bereits im Übergang von einer an Einfluss verlierenden Moghul-Dynastie zur britischen Kolonialherrschaft.

Das Netz der frühen Seidenstraßen verbindet innerasiatische Oasenstädte mit Routen, die entlang von Wüsten, durch Steppen und über Hochgebirge verlaufen.
Quelle: Hermann Kreutzmann (2015b, S. 102 © Hermann Kreutzmann)
Kamelkarawanen gibt es heute nur noch selten auf schwierigen Wegen zu den Hochweiden. Motortransport hat sie allenthalben ersetzt.
Quelle: Fotograf Hermann Kreutzmann 1991 © Hermann Kreutzmann

Innerasien nimmt über lange Zeiträume eine räumlich-vermittelnde Stellung zwischen sich wandelnden Machtblöcken ein. Aus chinesischer Perspektive reicht der Wissensdurst weit über das ‚goldene Zeitalter‘ der Tang-Dynastie (618-906) zurück. Der ‚große Reisende‘ – wie Zhang Qian genannt wurde – hatte sich im Jahre 126 vor der Zeitenwende bereits auf den ‚Weg nach Westen‘ gemacht, um die Wege ins Tarim-Becken und durch die Takla Makan bis hin zu den Pamir-Pässen zu erkunden. Die ‚Völker des Westens‘ waren im 2. Jh. v.u.Z. in China genau so geheimnisvoll und unbekannt wie die fernen östlichen asiatischen Lande entlang der ‚Seidenstraße‘ für Marinus von Tyrus, dessen Kartenwerk von Claudius Ptolemäus drei Jahrhunderte später als ‚Berichtigung der geographischen Tafel‘ veröffentlicht wurde. Das eurasiatische Spannungsverhältnis erlebte immer wieder Höhepunkte des Austausches von Waren und Wissen, gefolgt von Perioden der Abschottung und Ausgrenzung. Die Suche nach religiöser Erkenntnis trieb pilgernde Mönche wie Faxian (399-414), Songyun (518-521) und Xuanzang (629-645) über die Himalayapässe in den indischen Subkontinent. Entlang ihres Weges entstanden Zeugnisse buddhistischer Andacht und Verehrung. Seien es der große Buddha von Leshan, die Mogao-Höhlen von Dunhuang, die Longmen-Höhlen bei Luoyang, Bäzeklik (Turfan) und Kara-Tepe oder auch die Monumentalplastiken von Bamyan, hier zeigt sich die Ausbreitung und Annahme der buddhistischen Lehre vom Zentrum in Gandhara im heutigen Pakistan.

Der Buddha von Bamian legt Zeugnis ab vom Reichtum entlang der Seidenstraße. Diese Aufnahme entstand vor der Sprengung durch die Taliban 2001.
Quelle: Fotograf Hermann Kreutzmann Juli 1977 © Hermann Kreutzmann

Die drei chinesischen Pilger waren wichtiger Botschafter auf dem Wege der Verbreitung theologischen aber auch gesellschaftlichen Wissens. Gerade dem letzteren Sucher nach buddhistischer Erkenntnis, der unter dem Schutz des in der Tang-Periode ausgeweiteten chinesischen Herrschaftsbereiches reisen konnte, verdanken wir ausführliche Beschreibungen über die Wegeverhältnisse sowie die wirtschaftlichen, religiösen und linguistischen Gegebenheiten im Inneren Asiens. Xuanzangs Berichte dienten Wu Ch’eng-ên 1570 als Vorlage für den chinesischen Roman ‚Die Reise nach dem Westen‘ (Xiyouji), der bis heute in der zeichnerischen Kunst, in Theaterstücken, im Puppenspiel oder als Comic-Vorlage populär geblieben ist. Noch im 19. Jahrhundert dienten die Erlebnisse und Beschreibungen des ‚Marco Polo des Ostens‘ – wie Xuanzang auch genannt wurde – als wichtige Textvorlage für die Erkundungen von archäologischen Schatzsuchern aus aller Welt, die auf seinen Spuren wandelten.

Der Mönch Xuanzang während seiner Pilgerreise nach Gandhara, er und seine Kumpanen wurden in der Takla Makan-Wüste bei Bezeklik mit diesem Denkmal geehrt.
Quelle: Fotograf Hermann Kreutzmann September 2010 © Hermann Kreutzmann

Innerasien als Kern eines eurasiatischen Austauschsystems

Die Wüsten und Steppen des altweltlichen Trockengürtels stellten Bann und Bindeglied gleichzeitig dar. Die Abschottungsfunktion wird häufig allein auf die ökologische Diversität der zu durchquerenden Regionen zurückgeführt. Die Hochebenen des Tarim-Beckens (Tarim Pendi, Taklimakan Shamo) und des Dsungarischen Beckens (Junggar Pendi) sind durch das Tien Shan-Gebirge voneinander getrennt, gleichfalls ist das Tarim-Becken vom Tibetischen Hochland durch den Gebirgsriegel des Kun Lun Shan klar unterscheidbar. Gebirge, Wüsten und Steppen, die durch ein Band von Oasen und Stützpunkten miteinander verknüpft waren, bilden das Spektrum der ökologischen Diversität und unterscheidbare Elemente der innerasiatischen Umwelt ab. Charakteristisch war jedoch gleichfalls die politische Verflechtung zwischen Nomaden und Sesshaften, das ökonomische Scharnier zwischen Pastoralisten, Oasenbauern und städtischen Händlern, deren Herrschaftsterritorien die Kleinteiligkeit bedeutender Abschnitte dieses auf Austausch basierenden Netzwerks andeuten. Handel über Teilabschnitte und kürzere Distanzen waren die Regel; nur wenige Händler begaben sich auf die Reise über lange Distanzen. Ökologische und ökonomische Aspekte werden heute verstärkt in der historisch-geographischen Forschung thematisiert. Andre Gunder Frank und Barry Gills sehen in dieser eurasiatischen Verflechtung ein 5000 Jahre altes Beziehungsgefüge, das sowohl für europäische als auch für asiatische und vornehmlich chinesische Entwicklungsprozesse eine nachhaltig wirksame Rolle gespielt hat. Der durch Austausch von erlesenen Kommoditäten und bahnbrechenden Ideen hergestellte Zusammenhang war entscheidender, als es trennende Elemente und auszugrenzende Strukturen nahezulegen vermochten. Sprachen, Schriftsysteme und Religionen verbreiteten sich in diesem Netzwerk ebenso wie technische Innovationen und alltägliche Praktiken. Europa und Asien – in diesem Zusammenhang sollten auch die multilateralen Austauschprozesse mit Afrika nicht unterschlagen werden – haben über Jahrhunderte von diesen gegenseitigen Verflechtungen profitiert, auch wenn konstatiert werden muss, dass dieses nicht in zu jedem Zeitpunkt in gleichem Maße erfolgte. Im weltweiten Vergleich der Einkommensverhältnisse hatte China bis Mitte des 18. Jahrhunderts die Vormachtstellung, bevor im Rahmen kolonialer Expansion die europäische Dominanz überhandnahm und bis ins 21. Jahrhundert fortgeschrieben wurde.

Hochmittelalterliche Erkundungsreisen und ihre Folgen bis heute

Lange bevor von einem ‚Weltsystem‘ im Sinne Immanuel Wallersteins gesprochen werden kann, hat Innerasien zu Lande ein Kommunikationsnetzwerk aufgewiesen, das in der vorherrschenden Weltsicht hinsichtlich seiner Effizienz lediglich maritimem Verkehr zugebilligt wurde. Die Reise Marco Polos im 13. Jahrhundert war durch besondere weltpolitische Konstellationen – vor allem in Innerasien – ermöglicht worden. Nachdem Dschingis Khan im Jahre 1206 auf einer Versammlung (quriltay) der herrschenden Gruppenrepräsentanten den Alleinvertretungsanspruch für alle Mongolen auf sich vereinigen konnte, setzte ein beispielloser Eroberungszug bis hin zur Schaffung des größten zusammenhängenden Herrschaftsbereiches auf Erden ein. Beijing wurde im Jahre 1215 eingenommen. Es folgte die mongolische Kontrolle über Nordchina. Zur selben Zeit bahnte sich – weit entfernt im Westen, jenseits der ‚Großen Mauer‘ – ein erstes Aufeinandertreffen der Mongolen mit den mächtigen Truppen des Herrschers von Choresmien (im heutigen Kasachstan gelegen) an. Die Geschicke der Region sollten sich schlagartig ändern, als 450 muslimische Händler aus der Mongolei kommend in Otrar, am Syr Darya östlich des Aral-Sees gelegen, vom dortigen Gouverneur Inalchik der Spionage bezichtigt, ausgeraubt und abgeschlachtet wurden (Bregel 2003, S. 36). Dieses Ereignis löste kriegerische Auseinandersetzungen aus, die in der Folge unter Dschingis Khan zu Eroberungen und Zerstörungen ungeahnten Ausmaßes führten: Otrar, Buchara und Samarkand wurden geschleift, die Bewohner getötet oder versklavt. Ein ähnliches Schicksal ereilte die Städte und Bewohner von Balkh, Bamyan, Ghazni und Herat (alle im heutigen Afghanistan gelegen) sowie Nishapur und Merv (das heutige Mary in Turkmenistan). In sieben Jahren hatten die nomadischen Mongolen die reichen zentralasiatischen Oasenstädte erobert und geschleift.

Das Mongolenreich hatte eine Ausdehnung nach Westen erfahren, so dass allein die Rückreise Dschingis Khans in die Mongolei auf dem Pferderücken mehr als zwei Jahre in Anspruch nahm. Dadurch war an der Peripherie Chinas ein mongolisch kontrollierter Bereich entstanden, der unter ihrem Schutz in der Folgezeit den Handel und Austausch erneut aufblühen ließ. Die Reisen von Johannes von Plano Carpini 1246, Johannes von Rubruck 1253, Nicolo und Matteo Polo (1260-1263) und Marco Polo (1271-1291) sowie Johannes von Montecervino 1290 sind nur unter den von den Mongolen geschaffenen Rahmenbedingungen und ihrer Protektion für die willkommen geheißenen Händler und Botschafter möglich gewesen.

Marco Polos Hinreise erfolgte zu Lande, für den Rückweg wählte er den Seeweg.
Quelle: Kreutzmann (2015b: 102; © Hermann Kreutzmann)

Mit einem mongolischen Einladungsschreiben ausgestattet, das die Funktion eines heutigen Visums erfüllte, konnte Marco Polo nach Einreise in den Herrschaftsbereich östlich des Schwarzen Meeres ohne weitere Grenzüberschreitungen bis in die Häfen am Südchinesischen Meer reisen. Solch eine günstige Konstellation für Kaufleute, Entdecker und Forschungsreisende herrschte nicht wieder bis in die Zeit der Qing- (Manchu-)-Dynastie (1644-1912), als China im 19. Jahrhundert an seiner westlichen Peripherie in das ‚Great Game‘ der damaligen Großmächte – Großbritannien und Russland – hineingezogen wurde.

Ferdinand von Richthofen und die Seidenstraße

In diese Zeit fallen die Aktivitäten, die einen weiteren Berliner Geographen, Ferdinand Freiherr von Richthofen nach China brachten. Für unterschiedliche Auftraggeber aus Europa und Nordamerika tätig erkundete er potentielle Bodenschätze und Geschäftsmöglichkeiten in China. Sein forscherischer Drang hat die so gesammelten Erkenntnisse in einem fünfbändigen Mammutwerk systematisiert und zusammengefasst. Im ersten, 1877 erschienenen Band dieses auf lange Sicht konkurrenzlos gebliebenen Standardwerks zu China erkannte Ferdinand von Richthofen die Bedeutung der vom ‚Reich der Mitte‘ nach Westen ausgerichteten Handelswege, die er als ein in viele Richtungen ausstrahlendes und abdeckendes Netzwerk auffasste. Obwohl ihm ein persönlicher Besuch des chinesischen Westens verwehrt blieb, hob er eine Handelsware besonders hervor und prägte den Begriff der Seidenstraße, so wie wir ihn heute kennen. Die Seide symbolisierte ein überaus wertvolles und zugleich leichtgewichtiges Gut. In einem schwierigen Gelände war diese Kombination eine entscheidende Voraussetzung für den Austausch über ein weit schweifendes, landgestütztes Verkehrsnetz, das für die Handelskarawanen immer wieder teure Verluste zeitigte und dessen Benutzung daher überproportional hohe Profite erbringen sollte. Die identifikatorische Reduzierung auf den Begriff der Seidenstraße sollte daher nicht als monofunktionaler Warenaustausch verstanden werden, zumal andere Güter wie Edelsteine und -metalle, Gewürze und Tee, Tierhäute und Pelze, Arzneien und Duftstoffe sowie im Laufe der Zeit mit verbesserten Transportmitteln auch hochwertige Textilien und andere moderne Handelsgüter transportiert wurden. Die Bedeutung und hohen Erwartungen, die das imperiale Zeitalter beflügelten, konnte dieses Austauschsystem nur zeitweilig und teilweise erfüllen, fand doch der hauptsächliche Warenaustausch weiterhin auf den Meeren statt. Dazu kamen politische Krisen, nicht nur das ‚Great Game‘ und die nachfolgenden Grenzziehungen behinderten den reibungslosen Austausch, auch innere Unruhen, die Russische und die Chinesische Revolution zogen über mehr oder weniger lange Zeiträume hermetische Abriegelungen und Grenzschließungen nach sich (Kreutzmann 2015a, 2017).

Die Nord-Süd-Trasse durch die Takla Makan-Wüste ist heute eine gut ausgebaute Teerstraße für Schwertransports.
Quelle: Fotograf Hermann Kreutzmann September 2016 © Hermann Kreutzmann

Von der alten zur neuen Seidenstraße

Während des Kalten Krieges traten bestehende, Kontinente überspannende Handelswege und Eisenbahntrassen zugunsten von internem Infrastrukturausbau in abgeschlossenen politischen Blöcken und Nationalstaaten zurück. Erst im Zuge der Entspannung und Globalisierung öffneten sich Grenzen erneut in großem Stil und erlaubten den Austausch allseits begehrter Güter. Die Volksrepublik China gehörte zu den Vorreitern in Innerasien, wurden doch frühere Trassen zu Planungsgrundlagen für neue Handelskorridore. Exemplarisch mag die Route über den Karakorum angeführt werden, die einen alten Handelsweg darstellt, im Zweiten Weltkrieg als Militärstraße ausgebaut werden sollte, im Kalten Krieg aus bilateralen politischen Gründen realisiert wurde und heute eine wichtige Achse der neuen Seidenstraße darstellt.

Der Kulminationspunkt des Karakoram Highway ist der Khunjerab-Pass (4655m), wo als Teil der neuen Seidenstraße für den China-Pakistan Economic Corridor ein markantes Tor errichtet wurde, vor dem die Reisenden kontrolliert werden.
Quelle: Fotograf Hermann Kreutzmann Juli 2017 © Hermann Kreutzmann
Zwischen den Grenzabfertigungsanlagen des China-Pakistan Economic Corridor liegen 230 km Gebirgsstrecke über den Khunjerab-Pass; die chinesische Zollstation in Tashkurgan (3120m) wird als ‚Post‘ bezeichnet.
Quelle: Fotograf Hermann Kreutzmann September 2016

Der Karakoram Highway wurde als pakistanisch-chinesische Freundschaftsstraße nach über zwei Dekaden gestreckter Bauzeit bereits 1978 eröffnet, stellt die wichtigste Straßenverbindung zwischen Süd- und Zentralasien dar und diente als Symbol bilateraler Freundschaft. Auf gleicher Streckenführung entstand im Zuge der neuen Seidenstraße der ‚China-Pakistan Economic Corridor‘. War der Karakoram Highway noch ein Geschenk der chinesischen Staatsführung an Pakistan – alle Baukredite wurden kurz nach der Fertigstellung einkassiert – stellt sich die heutige Situation völlig anders dar. Pakistan ist heute gegenüber China hochverschuldet und musste vielfältige Zugeständnisse für den bilateralen Handel und Infrastrukturausbau bis zur Überlassung des Hafens von Gwadar am Arabischen Meer machen (Kreutzmann 2020a). Ähnliche Entwicklungen sind in anderen Anrainerstaaten wie Tadschikistan und Kirgistan, aber auch in Myanmar nachzuweisen. Die langfristigen Folgen dieser Projektmaßnahmen lassen sich heute noch nicht abschätzen.

Die obere Karte zeigt die Grenzen des Mongolischen Reiches; Marco Polo reiste unter dem Schirm der Pax Mongolica. Zum Vergleich die heutige Welt mit den Wirtschaftskorridoren der neuen Seidenstraße.
Quelle: Hermann Kreutzmann 2021 © Hermann Kreutzmann

Warum der Rückgriff auf den Terminus Seidenstraße? Die Beziehungsgeschichte zwischen Europa und China stand offensichtlich Pate, als von dem terrestrischen Gürtel und der maritimen Straße – ‚one terrestrial belt and one maritime road‘ – gesprochen wurde, die der chinesische Staatspräsident Xi Jinping in der kasachischen Hauptstadt Astana (heute Nursultan) als die ‚neue Seidenstraße‘ ankündigte. Unter ihrem Deckmantel wurden viele bereits existierende Austauschverbindungen subsumiert, neu hinzu kamen deren Ausbauten mit moderner Infrastruktur und völlig neue Verbindungen sowie die ersten Sonderwirtschaftszonen im fernen Westen Chinas.

In der Sonderwirtschaftszone von Kashgar wurden Anlagen zum Umschlag für Massengüter errichtet. Von hier sollen acht chinesische Nachbarstaaten bedient werden.
Quelle: Fotograf Hermann Kreutzmann September 2016

So geht die neue Seidenstraße auch über Moskau und viele andere Knotenpunkte, die in historischer Dimension nicht mit diesem Terminus in Verbindung gebracht wurden. Marco Polos Reiseroute symbolisiert die Hauptachsen zu Lande und über die Meere. Seine Reise lieferte die Blaupause für die Formel; mit der Ausgestaltung hat sie jedoch wenig gemeinsam. Ob jemand bei der Charakterisierung an Ferdinand von Richthofen gedacht hat, ist bislang nicht belegt. Der von ihm geprägte bzw. popularisierte Begriff hat jedoch solch eine Anziehungskraft und Akzeptanz, dass den meisten Menschen eher positive und angenehme Konnotationen in den Sinn kommen, wenn von der Seidenstraße gesprochen wird. Zuvor bemühten die Kulturwissenschaften und die Tourismusindustrie den Begriff für ihre Zwecke; mittlerweile ist eine viel breitere Anwendung hinzugekommen. Die Alltagswirklichkeit ist jedoch eher im Bereich ökonomischer Konkurrenz, neu geschaffenen Abhängigkeiten und Verschuldungen sowie Verschiebungen von geopolitischen Machtkonstellation zu erleben. Die Befindlichkeiten der Anrainer werden durch die Erwartungshaltungen der Protagonisten an den Endpunkten des Netzwerks in den Hintergrund gedrängt; der Zwischenraum erfüllt sich zunehmend mit Vorbehalten und Zweifeln, vor allem dort wo zählbare und geldwerte Vorteile sich nicht einstellen. Exemplarisch konnte das bereits im Karakorum nachvollzogen werden (Kreutzmann 2020b). Mittlerweile drängen potente Investoren und Nutznießer veränderter Rahmenbedingungen in ehemals periphere Gebiete, um entlang der Seidenstraßen mineralische Schätze zu heben und neue Absatzmärkte zu erschließen. Wie so oft klaffen Begriff und Wirklichkeit weit auseinander; der Terminus dient eher als eine Chiffre für ein hochkomplexes Gebilde als für ein romantisches Erlebnis neu gelebter Beziehungen und Reisemöglichkeiten.

An der höchstgelegenen Grenzstation der neuen Seidenstraße scheint die chinesische Flagge oberhalb des Muztagh Ata (7450m) zu wehen.
Quelle: Fotograf Hermann Kreutzmann Oktober 2008 © Hermann Kreutzmann
Internationaler Handelsverkehr wird an der neu gebauten Grenzabfertigungsanlage in Karasu abgewickelt.
Quelle: Fotograf Hermann Kreutzmann September 2016 © Hermann Kreutzmann

Zitierte Literatur:

Bregel, Y. 2003: An historical atlas of Central Asia. Leiden, Boston
Frank, A. G. 1992: The centrality of Central Asia. Am¬sterdam
Gills, B. K. & A. G. Frank 1991: 5000 years of World System History: The Cumulation of Accumulation. In: Chase-Dunn, C. & T. Hall (Hrsg.): Precapitalist Core-Peri¬phery Relations. Boulder, S. 66-111
Kreutzmann, H. 2015a: Pamirian Crossroads. Kirghiz and Wakhi in High Asia. Wiesbaden
Kreutzmann, H. 2015b: Das Great Game – Asien als Bühne eines imperialen Machtkampfes. In: von Brescius, M., Kaiser, F. and S. Kleidt (Hg.): Über den Himalaya – Die Expe-dition der Brüder Schlagintweit nach Indien und Zentralasien 1854 bis 1858. Köln, Weimar, Wien, S. 89-95
Kreutzmann, H. 2017: Wakhan quadrangle. Exploration and espionage during and after the Great Game. Wiesbaden
Kreutzmann, H. 2020a: Hunza matters—Bordering and ordering between ancient and new Silk Roads. Wiesbaden
Kreutzmann, H. 2020b: Vom Karakoram Highway zur Neuen Seidenstraße. China-Pakistan Economic Corridor im pakistanischen Hochgebirge. In: Geographische Rundschau 5 (2020), S. 28-33
Richthofen, F. von 1877: China. Ergebnisse eigener Reisen und darauf gegründeter Stu¬dien. Band 1. Berlin.
Ritter, C. & F. A. Oetzel 1841: Karte Innerasiens zu Carl Ritter’s Erdkunde Buch & Übergang von Ost nach Westasien, bearbeitet von Carl Zimmermann. Berlin
Wallerstein, I. 1998: Evolution of the Modern World System. In: Preyer, G. (Hrsg.): Strukturelle Evolution und das Weltsystem. Theorien, Sozialstruktur und evolutionäre Entwicklung. Frankfurt/Main, S. 305-315.
Wu Ch’êng-ên 1962: Die Pilgerfahrt nach dem Westen. Rudolstadt.

Über den Autor

Prof. Dr. Hermann Kreutzmann

Prof. Dr. rer. nat. Hermann Kreutzmann hatte den Lehrstuhl für Anthropogeographie an der Freien Universität Berlin bis März 2020 inne. Er studierte Physik, Geographie und Ethnologie an den Universitäten Hannover und Freiburg i. Brsg. Die Promotion erfolgte an der Freien Universität Berlin, die Habilitation an der Universität Bonn, gefolgt von einer Gastprofessur an der University of Washington in Seattle, bevor 1996 der Ruf auf den Lehrstuhl für Kulturgeographie und Entwicklungsforschung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg erfolgte. Im Jahre 2005 folgte er dem Ruf nach Berlin und leitete das ‚Centre of Development Studies‘ im Institut für Geographische Wissenschaften der Freien Universität. Seine Forschungsinteressen sind regional in Süd- und Zentralasien verankert; die Themen sind in der Geographischen Entwicklungsforschung, Hochgebirgsforschung, Mobilitäts- und Migrationsfragen bis hin zur Politischen Geographie und Minderheitenthemen verankert. Die Ergebnisse der umfangreichen Feldforschungen und zahlreichen empirischen Untersuchungen wurden mündeten in mehr als 25 Büchern und mehr als 250 publizierten wissenschaftlichen Artikeln und Buchbeiträgen.