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Die „Neue Seidenstraße“ und warum wir Eurasien neu buchstabieren müssen

Von 12. Januar 2021Februar 8th, 2021No Comments
Die „Neue Seidenstraße“ und warum wir Eurasien neu buchstabieren müssen

Die „Neue Seidenstraße“ und warum wir Eurasien neu buchstabieren müssen

12. Januar 2021, Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer 施 寒微, Direktor des China Centrum Tübingen (CCT)

Gegenwärtig gehen in China gelegentlich die Lichter aus, weil dringend benötigte australische Kohle fehlt. China nutzt seine Einkaufsmacht, um Australien, dessen größter Handelspartner China ist, unter Druck zu setzen, und mutet seiner Bevölkerung einiges zu. Zugleich erholt sich China schneller als andere Volkswirtschaften von der Corona-Pandemie, und voraussichtlich im Jahre 2028 wird China die USA wirtschaftlich überholen. Dazu wird es noch viel Energie brauchen. Zugleich hat China eine „Grüne Revolution“ ausgerufen – und erfahrungsgemäß bleibt es nicht bei solchen leeren Worten. Da erscheint der Bau neuer Kohlekraftwerke nur dann als ein Widerspruch, wenn man die vielen neuen Atommeiler und den Ausbau neuer Technologien außer Acht lässt. China sucht langfristig sicherzustellen, dass ihm nicht die Lichter ausgehen und die Menschen nicht die ersten zwanzig Stockwerke in Hochhäusern wieder zu Fuß laufen müssen, wie es derzeit wegen der Stromrationierung nicht selten der Fall ist. Heute frieren wieder viele in China – aber wird dies ein Dauerzustand bleiben?

Hier ist ein Rückblick bis in die Anfänge der aufs engste mit der Kohleförderung verbundenen Industrialisierung Chinas im neunzehnten Jahrhundert hilfreich. Nicht nur die Manufakturen in den Küstenstädten, auch die Seefahrt der europäischen Mächte bedurfte der Kohle. Und es ist kein Zufall, dass der Begriff der „Seidenstraße“ von jenem deutschen Geographen und Geologen geprägt wurde, der in den Jahren nach seiner Landung in Shanghai am 5. September 1868 auf sieben Expeditionen die wichtigsten Kohlelagerstätten Chinas erkundete, Ferdinand von Richthofen. So wurden die Grundlagen für die Einbindung Chinas in die Weltwirtschaft des 20. Jahrhunderts geschaffen. Und so wie China inzwischen die Bereiche Energie und Technik erfolgreich zusammen mit der Digitalisierung verknüpfen konnte, so wird bei einer „grünen Erholung“ der Weltwirtschaft China nun im 21. Jahrhundert eine führende Rolle spielen. Dabei wird die auch als Belt-and-Road-Initiative bekannte Neue Seidenstraßeninitiative eine wichtige Rolle spielen. Sie ergänzt die maritimen Verbindungswege und erschließt damit neue Märkte und schafft Diversifikationschancen. Wenn Europa nicht noch unter den für 2035 prognostizierten Anteil an der Weltwirtschaftsleistung von 12 Prozent (gegenwärtig noch 19 Prozent) fallen will, kann wird es sich mit dieser Initiative verbinden müssen.

Chinas Seidenstraßen-Initiative ist der Versuch, den Globalisierungsstrukturen einen neuen Stempel aufzudrücken und die weitere Entwicklungsrichtung von chinesischer Seite aus mitzubestimmen. Regionen übergreifende Allianzbildungen waren nach der Auflösung der Sowjetunion von vielen Seiten verfolgt worden, seit 2011 von den USA mit der „New Silk Road“, auch von Russland sowie von der EU durch den seit 1993 betriebenen Plan eines „Transport Corridor Europe-Caucasus-Asia“ (TRACECA) mit einem ersten Gipfeltreffen in Baku im Jahr 1998. Als die Regionalstrategie „Pivot to East Asia“ von der amerikanischen Administration unter Präsident Barack Obama 2012 proklamiert und von China als Versuch der Eindämmung verstanden wurde, konnte es nicht überraschen, dass das aufstrebende China nun seinerseits begann, gewissermaßen als Nachzügler aktiv das Knüpfen eines Netzwerks von Handelswegen über Land- und Seerouten voranzutreiben und dies mit der Belt-and-Road-Initiative (BRI) seit 2013 umsetzte. Globale Machtverschiebungen sind keineswegs etwas Neues und neue Schübe zeichnen sich seit langem ab, worauf sich die globalen Wirtschaftsakteure auch bereits seit langem einstellen. Alle Beteiligten suchen mit mehr oder weniger Geschick hierbei steuernd zum eigenen Vorteil einzugreifen. Dies spiegelt sich in den genannten Initiativen. Dabei werden alte Vorstellungen und Feindbilder, etwa die Rede von der „Gelben Gefahr“, gerne bemüht, ohne dass es eine ausdifferenzierte öffentliche geopolitische Debatte gibt, was auch daher rührt, dass in der Zeit des Ost-West-Konfliktes solche Debatten kaum geführt wurden. So herrscht derzeit weithin Sprachlosigkeit, mit der auch die Trägheit des europäischen Selbstverständigungsprozesses wenigstens zum Teil zu erklären ist. Hinzu kommt, dass weite Gebiete der eurasischen Landmasse in den letzten beiden Jahrzehnten mental als Aufmarschgebiete des Islamischen Staates (IS) sowie als Kampfzonen zwischen rivalisierenden regionalen Mächten definiert wurden. Dies ist bis heute so geblieben. Daraus resultiert, dass konstruktive und auf Entwicklung und Emanzipation gerichtete Entwicklungsprozesse für diese Regionen in den mental maps vieler maßgeblicher Akteure kaum imaginiert wurden.

Besonders in Deutschland sind geopolitische Diskurse seit den aus heutiger Sicht oft haarsträubenden Weltordnungsdebatten der 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts – und daher auch verständlicherweise – weitgehend unterblieben, und es findet sich erst in Ansätzen die Bereitschaft, eine den Ost-West-Gegensatz hinter sich lassende Weltbetrachtung zuzulassen. Denn ohne dies wird es schwerfallen, sich auf die Entwicklung der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in neuer Weise ihre eigene Bestimmung suchenden Länder Zentralasiens und des Nahen Ostens einzulassen. Hinzu kommt, dass ein die Einbettung Chinas in die komplexe Interessenkonstellation in Ost- und Südostasien ausblendendes verzerrendes Narrativ sich auf ein „expandierendes und eine neue Weltmachtrolle anstrebendes China“ fokussiert, um daraus abzuleiten, man müsse die Kräfte zur Eindämmung Chinas und zur Stützung fortdauernder Dominanz des Westens, namentlich der USA, bündeln. Damit aber wird sich Westeuropa nur weiter marginalisieren.

In einer Zeit zunehmender wirtschaftlicher Bedeutung Chinas und insbesondere angesichts des Rückzugs der USA aus internationaler Verantwortung ist die Neue Seidenstraßen-Initiative Chinas viel mehr ein zu Hoffnungen Anlass gebendes Zeichen. Dadurch werden neue Horizonte und alternative Entwicklungsperspektiven für die zahlreichen Länder zwischen China, Russland, Indien, Türkei, Persien und Westeuropa eröffnet und auch neue Kooperationsbeziehungen mit den aufstrebenden Staaten Afrikas begründet. Unübersehbar zielt die Belt-and-Road-Initiative darauf, ein von China ausgehendes und dorthin führendes Netzwerk von Verbindungen zu schaffen, um China nicht erneut in Isolation zurückfallen zu lassen. Doch statt sich zu distanzieren, könnte Europa die ureigensten Interessen seiner Mitgliedsstatten mit diesem von China angestoßenen Projekt der weiteren Öffnung verknüpfen. Es gibt zahlreiche Beispiele für die mögliche zukünftige Verknüpfung von Wirtschafts- und Handelsinteressen, darunter auch Fragen der Rohstoffsicherung mit Einzelinteressen ebenso wie mit Umwelt-, Denkmal- und Naturschutzfragen.

Die Initiative bietet Chancen entlang der bereits bestehenden, zum Teil noch zu schaffenden und zu ergänzenden Korridore und könnte von den regional Beteiligten, und natürlich auch von dem mit Multilateralität erfahrenen Europa genutzt werden. Dass die dadurch geschaffenen Netzwerke auch zunächst Nichtbeteiligten zur Verfügung stehen wie Indien und anderen aufstrebenden Ländern, dafür könnte, getragen von dem Prinzip der Multilateralität, eine europäisch-chinesische Zusammenarbeit die Voraussetzungen entwickeln. Für die EU bietet sich zudem die Möglichkeit, durch intern abgestimmtes Verhalten Verhandlungspositionen gegenüber anderen Akteuren zu begründen und so auf möglichst gerechte Beziehungen hinzuwirken, statt wie bisher China einseitig zu verdächtigen, es wolle sich die Welt aneignen, sie unterwerfen oder gar „kaufen“. Europa könnte in diesem Zusammenhang seinerseits die Multilateralität der eurasisch-afrikanischen-Wirtschaftsverflechtung verstärken und auf ein institutionalisiertes Monitoring hinwirken. Dies verspricht neue Möglichkeiten der Friedenssicherung und Wohlstandsentwicklung in Eurasien und ermöglicht durch Komplementarität Win-Win-Situationen, indem es einseitige Ausbeutungs- und Übervorteilungsbeziehungen einhegt. Mit einer solchen neuen Globalisierung und einem Zusammenwirken Europas und Chinas als starke Akteure könnte den Herausforderungen der Zukunft, darunter den Auswirkungen des Klimawandels – auf die globale Trinkwassersicherung ebenso wie die Veränderungen in bisherigen Permafrostgebieten mit all ihren Folgen – und den auf Abhängigkeiten gestützten Beherrschungsverhältnissen besser als bisher begegnet werden.

Über den Autor

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer 施 寒微

  • Direktor des China Centrum Tübingen
  • Präsident des Erich-Paulun-Institut
  • Seniorprofessor der Eberhard Karls Universität Tübingen
  • Prof. em. für Ostasiatische Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Göttingen
  • Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel a.D.