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Die „Neue Seidenstraße“ in turbulenten Zeiten

Von 17. Oktober 2020Februar 8th, 2021No Comments

Die „Neue Seidenstraße“ in turbulenten Zeiten

17. Oktober 2020, Prof. Dr. Markus Taube, Duisburg

Die Weltwirtschaft wird zunehmend von nationalen Egoismen geprägt. Multilaterale Strukturen zerbrechen und Wertschöpfungsketten konfigurieren sich mit deutlich geringeren geografischen Radien neu. Die deutsche Volkswirtschaft steht in Gefahr einer der größten Verlierer dieser Entwicklung zu werden. Im Zuge einer sich immer stärker integrierenden Weltwirtschaft hat sie in den vergangenen Jahrzehnten ihre Produktion zunehmend an den Bedarfen der globalen Märkte ausgerichtet – und gleichzeitig in anderen Bereichen das Entstehen von Lieferabhängigkeiten zugelassen. Das war sinnvoll und wohlstandsfördernd. Nun verlieren diese Strukturen aber zunehmen ihr realwirtschaftliches Fundament und werden Ordnungsrahmen geschaffen, die anstelle von integrierten Weltmärkten wieder stärker auf nationale Wirtschaftseinheiten setzen. Sollte sich dieser Trend verfestigen, wären schmerzhafte Strukturanpassungen unvermeidbar.

Die seitens der VR China vorangetriebene „Belt & Road Initiative“ zur Ausbildung einer „Neuen Seidenstraße“ bezeichnet eine der wenigen verbliebenen Initiativen, die konstruktiv neue Wirtschaftsräume erschließen und die grenzübergreifende Arbeitsteilung vorantreiben will. Die deutsche Wirtschaft sollte diese, dem aktuellen Trend entgegenlaufende Dynamik aufgreifen, auf der politischen Ebene unterstützen und in ihrer Geschäftstätigkeit entsprechend zum Tragen bringen. Die Umsetzung der Idee einer „Neuen Seidenstraße“ bietet der deutschen Wirtschaft ausgezeichnete Chancen, ihre Wettbewerbsstärke weiterhin international voll zur Geltung zu bringen.

Hinter dem Begriff der „Neuen Seidenstraße“ verbirgt sich allerdings ein komplexes Gesamtbild in dem potentialträchtige Muster neuer arbeitsteiliger Wirtschaftsbeziehungen von konfliktär aufeinanderprallenden (geo)politischen Interessen der großen Mächte China, Europa, Russland und der USA kompromittiert werden.

Weniger die Idee an sich als vielmehr die konsequente Umsetzung des Konzepts einer „Neuen Seidenstraße“ ist der VR China zuzuschreiben. Die Xi Jinping Administration hat Anfang des Jahrzehnts eine neue Ära selbstbewussten, pro-aktiven Engagements des Landes auf der globalen Bühne eingeläutet. Damit einher geht ein klarer Gestaltungswille und Anspruch auf Teilhabe an der Ausgestaltung der Weltwirtschaftsordnung des 21. Jahrhunderts. Wichtigster und substantiellster Ausdruck dieser Neuorientierung ist zweifelsohne die im Jahr 2013 ausgerufene „Belt & Road Initiative“. Im Verlauf der vergangenen Jahre ist deutlich geworden, dass dieser Begriff als Dachmarke für ein breites Spektrum von Aktivitäten in zahlreichen Ländern zu verstehen ist. Diese umfassen diverse ökonomische Infrastrukturprojekte, Investitionen in Industrieanlagen und Handelsnetze. Gleichzeitig hat die „Belt & Road Initiative“ aber auch eine starke politische Komponente, die über den Aufbau von soft power, intensive Infrastruktur- und Innovationsdiplomatie und über militärstrategische Allianzen auf eine Stärkung chinesischen Einflusses und die Verankerung chinesischer Interessen in der Region abzielt.

In Wahrnehmung dieser vielschichtigen Interessen Chinas entlang einer „Neuen Seidenstraße“ sind auf der politischen Ebene mittlerweile dezidierte Gegenstrategien entwickelt worden, um eine aufkommende chinesische Dominanz einzudämmen. Die Europäische Union hat so den als komplementär konzipierten Gegenentwurf einer „Konnektivitätsstrategie“ aufgesetzt. Seitens der USA dominiert demgegenüber gegenwärtig eine Blockadepolitik, die sich insbesondere im „Blue Dot Network“ manifestiert. Russland hat bislang kein konkretes eigenes Programm vorgestellt, sondern stillschweigend eigene ökonomische Interessen in die operative Umsetzung von „Belt & Road Initiative“ Programmen einfließen lassen.

Diese vielschichtigen Zusammenhänge und Interessenskonstellationen gilt es bei der Erörterung von Chancen und Risiken eines unternehmerischen Engagements entlang einer „Neuen Seidenstraße“ zu beachten. Politische Risiken dominieren zuweilen die betriebswirtschaftlichen.

Für die Geschäftstätigkeit im Rahmen der „Neuen Seidenstraße“ sind zwei grundlegende Dimensionen zu unterscheiden. (i) Die „Neue Seidenstraße“ als ein Netz neuer Transportkorridore zwischen Ost und West, und (ii) die „Neue Seidenstraße“ als Katalysator für die Ausbildung neuer ökonomischer Produktionszentren in Weltregionen, die bislang nur eingeschränkt in die Weltwirtschaft integriert waren.

In ihrer ersten Manifestation als Netzwerk von Transportkorridoren hat die „Neue Seidenstraße“ die Versandzeiten des Eisenbahn-Transports zwischen China und Europa von mindestens 36 Tagen im Jahr 2011 auf 16 Tage im Jahr 2019 erheblich verkürzt. Eine weitere Reduzierung der Laufzeiten auf lediglich 10 Tage erscheint realistisch (Referenz: Hauptlauf Chongqing nach Duisburg). Weitere Vereinfachungen administrativer Verfahren bei Grenzübertritten, der Aufbau einer leistungsstärkeren Schieneninfrastruktur, die Elektrifizierung von Streckenabschnitten, etc. sollten diese recht kurzfristig ermöglichen können. Aber auch durch regulatorische Schritte in Europa könnte noch Potenzial gehoben werden. So ist z.B. die maximal zugelassene Zuglänge auf EU-Territorium noch deutlich geringer als im weiteren Verlauf der Wegstrecke, was zu erhöhten Kosten führt und zusätzliche organisatorischen Herausforderungen aufstellt.

Trotz der erheblichen Zeitersparnis, der mittlerweile etablierten hohen Qualität verfügbarer Logistikdienstleistungen und des dank moderner Technik geschaffenen geringen Risikos von Diebstahl und Beschädigung der transportierten Güter scheint der schienenbasierte Containertransport zwischen China und Europa bisweilen aber nur Nischeninteressen zu bedienen. Aktuell werden nur etwa 1-2% des gesamten europäisch-chinesischen Güterverkehrs mit dem Zug transportiert. Gut 95% werden weiterhin noch über den Seeweg geführt (mit dem Rest als Luftfracht). Eine Verdopplung dieses Anteils erscheint möglich. Jenseits dessen erscheint das Potential allerdings beschränkt. Die „Neue Seidenstraße“ in ihrer Erscheinungsform als neuer Transportkorridor zwischen Europa und China hat somit letztlich keinen disruptiven Charakter. Sie bietet einen alternativen Transportweg, kann spezifische Anforderungen an Logistikdienstleistungen besser bedienen als klassische Transportformen und ermöglicht hiermit Effizienzsteigerungen in der chinesisch-europäischen Arbeitsteilung. Aber nicht mehr.

Es ist von daher in ihrer zweiten Manifestation in der die „Neue Seidenstraße“ tatsächlich grundlegend neue Impulse für die Entwicklung von Geschäftsaktivitäten der deutschen Wirtschaft setzen kann. An den Bahnhöfen und Seehäfen entlang der Transportrouten der „Neuen Seidenstraße“ entstehen derzeit zahlreiche Industrie- und Freihandelszonen, die es den lokalen Volkswirtschaften ermöglichen, sich in den chinesisch-europäischen Güteraustausch einzuklinken und durch eigene Wertschöpfungsangebote zu ergänzen. Diese neuen Industriezonen sind somit der Schüssel für die Ausbildung eines neuen Geflechts arbeitsteiliger Strukturen, mit dem diese Regionen in die Weltwirtschaft eingebunden werden und mittelfristig auch unabhängig von den wirtschaftlichen Schwergewichten an den Endpunkten der „Neuen Seidenstraße“, d.h. Europa und China, prosperieren können.

Für deutsche Unternehmen eröffnen sich so Tore zu bislang weitgehend unzugänglichen Volkswirtschaften, ihren Arbeitsmärkten, Ressourcen und Märkten. Insbesondere in Zentral- und Südasien handelt es sich hierbei größtenteils um Volkswirtschaften, die sehr niedrige Lohnniveaus aufweisen und über erhebliche Bodenschätze und/oder Agrarressourcen verfügen. Für deutsche Unternehmen bieten sich somit diverse Möglichkeiten eines Engagements.

Diese umfassen:

  • Dienstleistungsexporte zur Erstellung von Infrastruktureinrichtungen;
  • die Bereitstellung von Logistikdienstleitungen, die nur Teilsegmente der Strecke China-Europa bedienen;
  • den Export von Kapitalgütern im Rahmen von Infrastrukturprojekten und zur Ausrüstung vor Ort neu entstehender Industriekapazitäten;
  • die Errichtung neuer Beschaffungsstrukturen für leichtindustrielle Güter durch den Aufbau lokaler Lieferanten (extern bzw. mit Eigenkapital). Hierbei können günstige Lohnstrukturen und lokale Rohstoffverfügbarkeiten (pull) genutzt werden, um Verlagerungen aus Regionen mit wachsendem Kostendruck bzw. erhöhten politischen Risiken (push) umsetzen zu können;
  • die schrittweise Erschließung lokaler Konsumgütermärkte, die allerdings zunächst noch durch vergleichsweise niedrige Kaufkraftniveaus begrenzt wird.

Die hier angesprochenen Industriezonen entstehen derzeit fast ausschließlich auf Initiative chinesischer Akteure. Gegenwärtig existieren bereits mehr als 80 derartiger Industriezonen, die von regierungsnahen chinesischen Einrichtungen und Unternehmen finanziert und operativ geführt werden. Wichtige Betreiber derartiger Industriezonen sind hierbei die China Chamber of Commerce for Import and Export of Machinery and Electronic Products und die China Merchants Bank. Im Regelfall bemühen diese Betreiber sich, chinesische Ankerinvestoren (Huawei, Sensetime, Zoomlion, etc) anzuziehen, um die herum sich nationale und internationale Zulieferer sowie andere affine Unternehmen ansiedeln. Europäische Akteure sind in diesen Industriezonen bislang faktisch nicht engagiert – weder als Betreiber noch anderweitige Investoren. Das substantiellste Engagement dürfte wohl noch die 0,67% Beteiligung der Duisburger Hafen AG (duisport) an dem Industriepark „Great Stone“ bei Minsk, Weißrussland, sein. Duisport investiert dort u.a. in ein Railterminal mit angebundenem Logistikareal.

Das starke chinesische Engagement schränkt die Möglichkeiten deutscher Unternehmen zunehmend ein, insofern die lokalen Strukturen immer stärker chinesisch geprägt werden, chinesische Standards Fuß fassen und systemische Lieferbeziehungen aufgebaut werden, die nur noch mit Mühen aufgebrochen werden können. De facto handelt es sich bei diesem Phänomenen um Manifestationen eines „Wandels durch Handel“ – diesmal aber auf Chinesisch.

Die deutsche und europäische Wirtschaft täte gut daran, dieser schleichenden „Sinisierung“ entgegenzutreten und das Potenzial der „Neuen Seidenstraßen“-Region stärker für sich zu erschließen. Andernfalls überlässt sie das Fed ihren chinesischen Konkurrenten. Der Prozess, in dem sich entlang der „Neuen Seidenstraße“ neue Strukturen verfestigen, die chinesischen Unternehmen langfristig Wettbewerbsvorteile verschaffen, ist bereits in vollem Gange.

Unterstützung seitens der Europäischen Union wird grundsätzlich durch die „Konnektivitätsstrategie“ geboten. Mit einem projektierten Finanzvolumen von ca. 550 Mrd. Euro kann diese durchaus substantielle Beiträge zur Stärkung deutschen und europäischen Engagements entlang der „Neuen Seidenstraße“ leisten. Es fehlt jedoch bislang an konkreten Projektkonzeptionen und operativen Implementierungsmaßnahmen. Selbst das Wissen um die Existenz einer europäischen „Konnektivitätsstrategie“ ist kaum verbreitet. Auch hier kann und muss die deutsche Wirtschaft aktiv werden, um die „Konnektivitätsstrategie“ mit Leben zu füllen. Ein Warten auf politisches Agieren aus Brüssel heraus verbraucht mehr Zeit, als zur Verfügung steht.

Über den Autor

Prof. Dr. Markus Taube ist Inhaber des Lehrstuhls für Ostasienwirtschaft / China und Direktor des IN-EAST Institut für Ostasienwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Er leitet zudem als Ko-Direktor das Konfuzius Institut Metropole Ruhr. Er hält diverse Gastprofessuren sowie Beirats- bzw. Kuratoriumspositionen.